Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht.1
 


 

Bayreuth ohne Wagner oder Wagner ohne Bayreuth?

von Eberhard Kloke und Waltraud Lehner


 
 
    Das ist die ganze Kunst, wie sie jetzt die ganze zivilisierte Welt erfüllt! Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Gelangweilten.2

Es ist schon alles gesagt. Auch der Satz, dass schon alles gesagt ist, ist schon oft gesagt worden, ebenso wie der Satz, dass schon gesagt sei, dass alles schon gesagt sei, und so fort. Dem gibt es nichts hinzuzufügen, zumal über Richard Wagner, über den längst alles gesagt, aus dessen Worten und Noten längst alles gemacht worden ist. Kaum ein Komponist und Autor hat so viel Heterogenes selbst hervorgebracht, kaum einer hat eine solche Wirkungsgeschichte geschrieben.

Ohne eine pointierte These über den Zustand des gegenwärtigen Musiktheaters liefern zu wollen, gilt es an dieser Stelle, Einiges des bereits Gesagten in einen neuen Zusammenhang zu stellen, um Perspektiven für eine authentische Aufführungspraxis von Richard Wagners "Werken" zu eröffnen.

   

Den wiederkehrenden und heutzutage leidenschaftlich diskutierten Topos vom "Tod der Oper" hätte Richard Wagner in seiner Zeit nicht pathetischer diagnostizieren können, hatte er doch viele Einwände gegen Oper und Opernbetrieb seiner Zeit, die heute nicht minder virulent sind: Der Betrieb, innerhalb dessen Musiktheater heute in Bayreuth oder an anderen Festspielorten, in Staats- und Stadttheatern stattfindet, erschöpft sich darin, den kleinen Kanon aufgeführter Opern im Sinne einer falsch - oder nicht? - verstandenen "Werktreue" aus vergangenen Zeiten heraus zu erklären oder in Neu-Inszenierungen mit "moderner" Ausstattung und unerhörten Konzeptionen zu überfrachten, die als des Kaisers neue Kleider anmuten.

 

Der Irrtum, welcher der Entwicklung dieser musikalischen Kunstform zu Grunde liegt, konnte uns erst einleuchten, als die edelsten Genies mit Aufwand ihrer ganzen künstlerischen Lebenskraft alle Gänge seines Labyrinths durchforscht, nirgend aber den Ausweg, überall nur den Rückweg zum Ausgangspunkte des Irrtumes fanden, - bis dieses Labyrinth endlich zum bergenden Narrenhause für allen Wahnsinn der Welt wurde. 3


Das Publikum lässt sich davon nicht abschrecken und frönt dem Theaterbesuch mit ungeteilter Lust am gesellschaftlichen Anlass der Repräsentation. Kulinarische Zerstreuung und anstrengungslose Unterhaltung stehen im Vordergrund, verdrängen die ästhetische Erfahrung als kommunikativem Prozess zwischen dem Kunstwerk, seiner Darstellung auf der Bühne und dem Rezipienten. Auf diese Weise deformiert die Kunst des Musiktheaters zum Produkt einer Gesellschaft, in der sich die industriellen Unternehmungen 4 Theater "vorbehaltlos den Wünschen und Neigungen eines ästhetisch pauperisierten Publikums anzupassen sucht (...) und dadurch jeglichen Kunstanspruch verspielt." 5

 

Wo keine Not ist, ist kein wahres Bedürfnis; wo kein wahres Bedürfnis, keine notwendige Tätigkeit; wo keine notwendige Tätigkeit ist, da ist aber Willkür. (...) Denn nur durch Zurückdrängung, durch Versagung und Verwehrung der Befriedigung des wahren Bedürfnisses kann das eingebildete, unwahre Bedürfnis sich zu befriedigen suchen. Die Befriedigung des eingebildeten Bedürfnisses ist aber der Luxus. (...) Und dieser Teufel, dies wahnsinnige Bedürfnis ohne Bedürfnis, - dies Bedürfnis des Luxus, welches der Luxus selbst ist, - regiert die Welt. 6


Die Bayreuther Festspiele, einst als Alternativmodell mit seinen eigenen Produktions- und Darstellungsbedingungen konzipiert, haben im Zuge ihrer Entwicklung und Konsolidierung eine Festivalstruktur und ein Rezeptionsverhalten herausgebildet und schließlich zementiert mit der Folge, nicht mehr von anderen vergleichbaren Festivals unterschieden werden zu können. Die Alternative, die Werkstatt Bayreuth im ursprünglichen Sinne hieße doch vielmehr, Modelle zur Hervorbringung und Rezeption immer wieder neu zu definieren und zu erproben zwischen dem ständig veränderbaren und weiter zu entwickelndem "Werk" und einem zur Auseinandersetzung bereiten, diese gar einfordernden Publikum.

 

An eine Aufführung kann ich erst nach der Revolution denken, erst die Revolution kann mir die Künstler und Zuhörer zuführen. Die nächste Revolution muss notwendig unserer ganzen Theaterwirtschaft des Ende bringen: sie müssen und werden alle zusammenbrechen, dies ist unausbleiblich. Aus den Trümmern rufe ich mir dann zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf, und lade zu einem großen dramatischen Feste ein: nach einem Jahr Vorbereitung führe ich dann, im Laufe von vier Tagen meine ganzes Werk auf: mit ihm gebe ich dem Menschen der Revolution dann die Bedeutung der Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen: das jetzige kann es nicht.7


Nicht umsonst hatte Richard Wagner den Mythos in seiner Konzeption der Architektonik von Musiktheater als den Träger sinnlich konkreter Vermittlung von Ideen gewählt. Der Mythos8 verhandelt archetypische anthropologische Fragen, die an keinem Ort der Welt zu keiner Zeit endgültig beantwortet werden können, da der Mythos um eine   Leerstelle kreist. Diese Leerstelle steht für Aporien, für die der Mythos Organisationsformeln anbietet, deren Aufgabe es ist, die "numinose Unbestimmtheit in die nominale Bestimmtheit zu überführen und das Unheimliche vertraut und aussprechbar zu machen." 9

 

Das Unvergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr, und sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.10


Der Mythos ist durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren, von denen jede und die ihr zugrunde liegenden Umschreibung der Leerstelle gleichwertig ist, seine Struktur ist die potentielle Unabschließbarkeit. Damit ist er für Richard Wagner der Garant für die dauerhafte Aktualität eines "Werks" mit der Forderung, die mythische Leerstelle mit den aktuell herrschenden Bedingungen zu konfrontieren und immer wieder neu zu umschreiben.

 

Diese Eigenschaft des Kunstwerks besteht aber darin, dass es sich nach Ort, Zeit und Umständen auf das Schärfste bestimmt sich kundgibt; dass es daher in seiner lebendigsten Wirkungsfähigkeit gar nicht zur Entscheidung kommen kann, wenn es nicht an einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen zur Erscheinung kommt. 11


Sogenannte "werktreue" Inszenierungen dagegen als die Wiederholung des Immergleichen oder als das Nachspüren einer einzigen ursprünglichen Bedeutung der mythischen Leerstelle laufen Richard Wagners Anspruch an zeitgemäßes Musiktheater zuwider.

 

Das absolute Kunstwerk, das ist: Das Kunstwerk, das weder an Ort und Zeit gebunden ist, noch von bestimmten Menschen unter bestimmten Umständen an wiederum bestimmte Menschen dargestellt und von diesen verstanden werden soll, - ist ein vollständiges Unding, ein Schattenbild ästhetischer Gedankenphantasie. 12


Ursprünglich war er von der Idee der Festspiele als einer zeitgenössischen Musiktheater-Werkstatt und von der Möglichkeit ausgegangen, auch neue "Werke" anderer Komponisten im Bayreuther Festspielhaus aufführen zu lassen. Wäre dies heute nicht umso notwendiger, da die Musik Richard Wagners naturgemäß nicht neu, sondern bestenfalls aktuell sein kann? Dies erfordert allerdings einen Anspruch an die Aktualität der Aufführungspraxis, die in den bahnbrechenden Anfängen der Bayreuther Festspiele durchaus zu beobachten war; heute scheinen dagegen erneuernde und wegweisende Perspektiven durch die musikalisch-szenische Aufführungstradition geradezu verstellt. "Der Weg vom Züricher Festspielplan bis zu dessen endgültiger Materialisierung auf dem grünen Hügel in Bayreuth ist der Weg vom idealen zum pragmatischen Festspielkonzept." 13 Dieses mag der Wegstrecke entsprechen: vom ersten experimentellen zeitgenössischen Musiktheaterfestival Richard Wagners zum Festspiel der Gralshüter Cosima, Siegfried, Winnifred und Wolfgang.

 

Und so lasse ich dann drei Aufführungen des ?Siegfried' in einer Woche stattfinden: nach der dritten wird das Theater eingerissen und meine Partitur verbrannt. 14

Sie [gem. sind die Originalaufnahmen, Anm. E.K., W.L.] müssten zunächst, je nach Umständen, ein-, zwei- oder auch dreijährig etwa wiederholt werden, und die ausschlaggebende Veranlassung hierzu würde sein, wenn ein neues Originalwerk ähnlichen Stiles, oder überhaupt der Auszeichnung solcher Aufführung wert erscheinend, geschaffen worden wäre. Hiermit hinge demnach eine Preisausschreibung für das beste musikalisch-dramatische Werk zusammen, und der Preis würde in nichts anderem bestehen, als in der Bestimmung zu der auszeichnenden Aufführung an Festtagen. 15

So ist beispielsweise die Konzeption des verdeckten, unsichtbaren Orchestergrabens 16 - auf die akustischen Verhältnisse des Bayreuther mystischen Abgrunds war vor allem Parsifal zugeschnitten - durch die Erfindung der Mikrophonie und des Lautsprecherklangs überholt worden. Nicht zuletzt durch diese technischen Entwicklungen fand ein Paradigmenwechsel vom Misch- zum Spaltklang statt, vom vermischten, versteckten/verdeckten und verstellten Klang in Richtung offen gelegter Klangstrukturen, analytisch geprägter und geprobter musikalischer Verdeutlichung eines Sichtbaren wie direkt Hörbaren. Diesem müsste in einer zeitgemäßen Aufführung von Richard Wagners "Werken" dringend Rechnung getragen werden.

 

Zur Vollendung des Eindruckes einer solchermaßen vorbereiteten Aufführung würde ich dann noch besonders die Unsichtbarkeit des Orchesters, wie sie durch eine, bei amphitheatralischer Anlage des Zuschauerraumes mögliche, architektonische Täuschung zu bewerkstelligen wäre, von großem Werte halten. (...) Hat man nun je erfahren, welchen verklärten, reinen, von jeder Beimischung des, zur Hervorbringung des Tones den Instrumentisten unerlässlichen, aussermusikalischen Geräusches befreiten Klang ein Orchester bietet, welches man durch eine akustische Schallwand hindurch hört (...). Nur aber in dem von mir gedachten Falle eines eigens hierzu konstruierten provisorischen Theatergebäudes würde diese Vorrichtung zu ermöglichen sein. 17


Auch ist zu fragen, ob es nicht gerade die sogenannten Festspielbedingungen, der Aufführungsrahmen und der Raum des Festspielhauses sind, die die Suche nach der Aktualität von Richard Wagners Musiktheater hemmen? Sie scheinen nicht nur den Blick nicht zu öffnen, sondern eine Auseinandersetzung über die zeitgemäße Interpretation, andere Raumbedingungen, alternative künstlerische Rahmenbedingungen oder über die Konfrontation der Musik Richard Wagners mit neuer Musik geradezu zu verhindern.

   

Öffnen ließe sich der Blick zum Beispiel durch ein Projekt Rheingold oder das Schweigen der Sirenen . In einer gänzlich neuen theaterunabhängigen Raumsituation werden Musik, Text, Bild, Licht und Bewegung miteinander und ineinander verschränkt, indem das Rheingold und bearbeitete Ring -Fassungen mit neueren Texten und zeitgenössischen Kompositionen befragt, in Spannung gesetzt und zu einer neuen Musiktheater-Einheit verschmolzen werden:

 

[Das] große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zugunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten Natur. 18


Rheingold und Das Schweigen der Sirenen

Ein Musik-Installations-Projekt in zwei Teilen, an zwei Orten in mehreren Räumen

Projektreihe Der Imaginäre Raum 19

Rheingold und ...
Erster Teil, ORT I
Installation Rheingold
In einer Musik-Raum-Licht-Installation von "Rheingold" an einem "neuen Ort" - Industriehalle, Ausstellungsraum, Messehalle, Konzerthaus, Museum - beginnt das Projekt. Mit einer raumtheatralisch dimensionierten Realisierung von "Das Schweigen der Sirenen" an einem anderen, auf den räumlichen wie inhaltlichen Gesamtkontext bezogenen Ort wird zweite Teil zu einem neuen Gesamtprojekt weiterentwickelt.

... Das Schweigen der Sirenen
Zweiter Teil, Ort II
Ein raum-szenisches Projekt in vier Aufzügen an mehreren Orten/Räumen


1. Aufzug (ca. 30 Minuten)
Richard Wagner

 


Das Rheingold
Vorspiel und erste Szene: Rheintöchter (nah) und Alberich (fern), 15'
Der akustische Urgedanke Richard Wagners ist die Erfindung des Klanges vom Einzelton bis zur Ausformung der Obertonreihe zu einem lebendigen Es-Dur-"Cluster": Die Geburt des Dreiklanges in 136 Takten stationärem Es-Dur.
Nur wer der Minne Macht entsagt, nur wer der Liebe Lust verjagt, nur er erzielt sich den Zauber, zum Reif zu zwingen das Gold.


Morton Feldman

 

Voice & Instruments I , 1972
Für drei Soprane (= Rheintöchter) und Instrumente, 15'


2. Aufzug (ca. 45 Minuten)
Wolfgang Rihm

 


Klangbeschreibung II (innere Grenze)
, 1987
Textworte aus dem Gedicht "Der Wanderer und sein Schatten" von Friedrich Nietzsche
Für vier Frauenstimmen (drei Soprane =   drei Sirenen im Zentrum und ein Mezzosopran, räumlich getrennt) und Instrumente, 35'
Drei Klanggruppen, in den Raum gespannt. Der Hörer sitzt im Hirn des Klangs (Zuckungen, Reflexe, ...). Vorn die Anschauung: ein Text, der das Fassen des Gerade-noch-Erreichbaren befiehlt ...
Am Ende von Klangverspannungen und Verläufen stehen (inverse Initialen, aus der Zukunft als einer rückläufigen Vergangenheit zurücklesbare Großschriftzeichen) die wenigen noch - oder schon erkennbaren Ton-Wort. Vier Frauen, eine Art mehrkehlige Urmutter, klingen sie herauf. (Wolfgang Rihm)


Richard Wagner

 

Das Rheingold
Aus der vierten Szene: ERDA: Weiche Wotan, weiche!, 10'
Wie alles war, - weiss ich; wie alles wird, wie alles sein wird, - seh' ich auch: der ew'gen Welt Urwala, Erda, mahnt deinen Muth. Drei der Töchter, urerschaff'ne, gebar mein Schoss. Was ich sehe, sagen dir die nächtlichen Nornen.


3. Aufzug (ca. 60 Minuten)
György Kurtág

 

Kafka-Fragmente , 1985/86
Für Sopran und Solovioline, 1. Und 2. Teil, 30'
Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen." (I, 16)
Zu spät. Die Süßigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot ... (IV, 1)


Richard Wagner

 

Götterdämmerung
Vorspiel: Nornenszene, 15'
Die drei Nornen: Zu locker das Seil, - mir langt es nicht! Soll ich nach Norden neigen das Ende, straffer sei es gestreckt! - Es riss! Es riss! Es riss! Zu end' ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr. Hinab! Zur Mutter! Hinab!


György Kurtág

 

Kafka-Fragmente , 1985/86
Für Sopran und Solovioline, 3. und 4. Teil, 25'
Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird Teil der Zeremonie (IV, 5)


4. Aufzug (ca. 45 Minuten)
Richard Wagner

 

Das Rheingold
Geräusch-Musiken der Nibelungen, 18 Ambosse hinter der Szene, für Tonband, 5'
9 kleinere rechts, links und im Hintergrund, 6 grössere rechts und links hinten voneinander entfernt, ein ganz grosser im Hintergrund, ein ganz grosser rechts, ein ganz grosser links. (Partiturangaben Das Rheingold )


Hildegard von Bingen

 

 

Hymnen, Antiphonen und Sequenzen, 12. Jahrhundert
Für drei Frauenstimmen, 12'
Responsorium: O vos, felices radices, cum quibus opus miraculorum, et non opus criminum,
per torrens iter perspicuae umbrae plantatum est.
Et o tu, ruminans ignea vox, praecurrens limantem lapidem, subvertentem abyssum, gaudete in capite vestro.
Gaudete in illo, quem non viderunt in terris multi, qui ipsum ardenter vocaverunt.
Gaudete in capite vestro.


Richard Wagner

 

Das Rheingold
Finale in einer Fassung für drei Rheintöchter (zwei Soprane, ein Mezzosopran), Loge (Tenor), sechs Harfen, Pauke und Streichquintett, 5'
Loge: Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen. Fast schäm' ich mich, mit ihnen zu schaffen ... .
Die drei Rheintöchter: Traulich und treu ist's nur in der Tiefe: falsch und feig ist, was dort oben sich freut!


György Kurtág

 

Samuel Beckett: What is the word , op. 30 b, 1991

Für Altstimme, fünf Vokalsolisten und Kammerensemble, 17'
Ihr Worte
Es hellt nicht nach.
Das Wort
Wird doch nur
Andre Worte nach sich ziehn,
Satz den Satz. (Ingeborg Bachmann)


Samuel Beckett

 

Atem
Theaterszene, 1969/70, 5'
Dunkel. Dann
1. Schwache Beleuchtung der Bühne, auf der verschiedenartiger, nicht erkennbarer Unrat herumliegt.
Etwa fünf Sekunden lang.
2. Schwacher, kurzer Schrei und sofort danach gleichzeitig Einatmen und allmählich aufhellende Beleuchtung bis zu dem nach etwa 10 Sekunden gleichzeitig zu erreichenden Maximum. Stille, etwa 5 Sekunden lang.
3. ausatmen und gleichzeitig allmählich dunkelnde Beleuchtung bis zu dem nach etwa 10 Sekunden gleichzeitig zu erreichenden Minimum (Beleuchtung wie bei 1.) und sofort danach Schrei wie vorher. Stille, etwa 5 Sekunden lang.
Dann Dunkel
Unrat: nichts steht, alles liegt verstreut herum.
Schrei: Moment eines auf Tonband aufgenommenen Vagitus. Wichtig ist, dass beide Schreie identisch sind und dass Beleuchtung und Atemgeräusch genau übereinstimmend zu- und abnehmen.
Atem: verstärkte Tonbandaufnahme.
Maximum der Beleuchtung: nicht zu hell. Wenn 0 = dunkel und 10 = hell, so sollte die Beleuchtung von 3 bis 6 zunehmen und entsprechend abnehmen .
(Samuel Beckett)


Sirenen, Wasserfrauen, Nornen und Rheintöchter sind Leitfäden der Klang-Reise durch die Jahrhunderte. Den Ausgangspunkt bilden Wagnersche Musikdramenteile in originaler und bearbeiteter Werkgestalt. Diese werden mit heutigen Klängen befragt und mit neuen Texten konfrontiert: Morton Feldman, Samuel Beckett, György Kurtág, Wolfgang Rihm, Hildegard von Bingen. An mehreren symbolträchtigen Orten entsteht eine raumtheatralische Klangreise. In den unterschiedlichsten räumlichen und szenischen Grundsituationen verändert sich das Ausgangs-Material (Richard Wagners Musik und szenische Vorstellung) in dem Maße, wie sich der Hör- und Blickwinkel auf Wagners "Werk" verändert. Die Szene und Raumlösung erweitern anschaulich die Perspektive des Gesamtkunstwerks .


Richard Wagners "Wer", seine Wirkung und Aktualität werden so in verschiedenen Auf-führungskontexten gleichsam aus unterschiedlichen Blick- und Hörwinkeln für die Gegenwart erschlossen. Damit sei nicht gesagt, dass eine Interpretation von Richard Wagners "Werken" besser oder authentischer sei, je weiter sie sich vom ursprünglichen Aufzeichnungsmedium und konzipierten Werkcharakter entfernt, vielmehr dass sich mit verschiedenen Veränderungen und Entwicklungen die Perspektive auf ein "Werk", seine Interpretation und Inszenierung sowie dessen Rezeption verändern. Indem man sich dieser Herausforderung stellt, entzieht man sich nicht den Fragen nach der Hervorbringung, Deutung und Wertung von Kunst, sondern leistet vielmehr einen Beitrag zur Suche nach zeitgemäßen Aufführungsformen von dem Kanon uns allzu bekannter "Werke".

   
    Meine Sache ist: Revolution zu machen, wohin ich komme. (...) Sind wir ganz aufrichtig, so müssen wir eigentlich auch zugestehen, dass es jetzt das einzige ist, was Sinn und wirklichen Zweck hat: das Kunstwerk kann jetzt nicht geschaffen, sondern nur vorbereitet werden, und zwar durch revolutionieren, durch zerstören und zerschlagen alles dessen, was zerstörens- und zerschlagenswert ist. Das ist unser Werk, und ganz andere Leute als wir werden erst die wahren schaffenden Künstler sein. Nur in diesem Sinne fasse ich auch meine bevorstehende Tätigkeit in Paris auf: Selbst ein Werk, das ich für dort schreibe und aufführe, wird nur ein Moment der Revolution, ein Affirmationszeichen der Zerstörung sein können. Nur die Zerstörung ist jetzt notwendig, - aufbauen kann gegenwärtig nur willkürlich sein. 20

Literaturhinweise

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1 Franz Kafka, Das Schweigen der Sirenen. In: "Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande" und andere Prosa aus dem Nachlass . Herausgegeben von Max Brod. New York, Frankfurt/Main 1953, S. 78-80, S. 79. zurück
2 Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 3, S. 19. zurück
3 Richard Wagner, Oper und Drama. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 3, S. 226.
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4 Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 3, S. 37. zurück
5 Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. Frankfurt/Main 1994, S. 185. zurück
6 Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 3, S. 48f.. zurück
7 Richard Wagner, Brief an Theodor Uhlig, 12. November 1851. In: Briefe. Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Hanjo Kesting. München, Zürich 1983. Bd. 4, S. 176. zurück
8 Vgl. hierzu Claude Lévi-Strauss, Die Struktur der Mythen. In: Strukturale Anthropologie. Frankfurt/ Main 1977, Bd. 1, S. 226 - 254; Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 1979; Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971. zurück
9 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 1979, S. 32. zurück
10 Richard Wagner, Oper und Drama. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 4, S. 64. zurück
11 Richard Wagner, Eine Mitteilung an meine Freunde. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 4, S. 237. zurück
12 Richard Wagner, Eine Mitteilung an meine Freunde. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 4, S. 234. zurück
13 Michael Karbaum, Studien zur Geschichte der Bayreuther Festspiele. Regensburg 1976, S. 15. zurück
14 Richard Wagner, Brief an Theodor Uhlig, 20. September 1850. In: Sämtliche Briefe. Herausgegeben im Auftrage des Richard-Wagner-Familienarchivs Bayreuth von Gertrud Strobel und Werner Wolf. Leipzig 1967-1993, 8 Bände, Bd. 3, S. 426. zurück
15 Richard Wagner, Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bühnenfestspiels "Der Ring der Nibelungen". In: Gesammelte Dichtungen und Schriften . Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 6, S. 272-281, S. 279. zurück
16 Das damit einher gehende Konzept der buchstäblichen Überbrückung von Zuschauerraum und Bühne zur direkteren und unmittelbareren Kommunikation zwischen dem Dargestellten und seinem Publikum wäre durch verschiedene andere (Bühnenbild-) Entwürfe oder die Verlagerung des Musiktheaters in Räume einzulösen, die dem klassischen Guckkasten-Prinzip nicht gehorchen. zurück
17 Richard Wagner, Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bühnenfestspiels "Der Ring der Nibelungen" . In: Gesammelte Dichtungen und Schriften . Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 6, S. 275f.. zurück
18 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. In: Gesammelte Dichtungen und Schriften. Leipzig 1907, 12 Bände, Bd. 3, S. 60. zurück
19 Von Eberhard Kloke © (www.imaginaerer-raum.de) zurück
20 Richard Wagner, Brief an Theodor Uhlig, 27. Dezember 1849. In: Sämtliche Briefe. Herausgegeben im Auftrage des Richard-Wagner-Familienarchivs Bayreuth von Gertrud Strobel und Werner Wolf. Leipzig 1967-1993, 8 Bände, Bd. 3, S. 196f.. zurück